Disputorium

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ZockBockRadio 11: Liebe & DSA

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Settembrini steht jedenfalls in der tradition von Goethe, der die Romantik gehasst hat. Und was mir Wikipedia sagt ist, das es wohl eine europäische bewegung war, keine im engeren Sinne deutsche, und eine gegenbewegung zur idustrialisierung.

Was mir sauer austößt ,ist das es anscheinend 16 Literaturbewegungen zwischen DSA und der Romantik gab. Sollte man nicht erstmal schauen, wie sich die aktuellen auf Rollenspiel ausgewirkt haben? Also die die aktuell waren, als DSA geschrieben wurde? Also vor allem neue Subjektivität, Postmoderne und gegenwartsliteratur?

Naja, sicher war es ein gesamteuropäisches Phänomen, aber bei aller Verwischung der Grenzen und gegenseitiger Beeinflussung kann man die Variationen in den unterschiedlichen Ländern schon sinnvoll unterscheiden. Man sagt zum Beispiel der angloamerikanischen Varietät mehr einen Hang zum Düsteren und Schauerlichen nach, als das etwa bei den Franzosen der Fall gewesen wäre. In der deutschen Romantik ging es dann eben auch stark darum, eigene nationale Stoffe zu verarbeiten (zB Grimms Märchen, Des Knaben Wunderhorn). Kann sein, dass das eine Reaktion auf den Umstand war, dass im Gegensatz zu Frankreich und England kein deutscher Nationalstaat existierte und die Literatur das zum Teil zu kompensieren suchte. Ich habe mich bei weitem nicht tief mit englischer und deutscher Romantik beschäftigt, aber nach allem was ich an Übersichten gelesen und gehört habe, scheint mir die Konzentration auf nationale Stoffe in der deutschen Strömung betonter.

Die These, dass gerade die deutsche Romantik als Keimzelle des Nationalismus für nachhallende Ausgrenzungserscheinungen in ihrer Kultur sorgt finde ich daher auch nachvollziehbar und schlüssig. Aber andererseits kommt dann auch hier wieder die Kehrseite zum Tragen: Die universalistische Geste mit welcher 'der' Erzählmeister und seine Spieler ihre Spielart als die eigentlich einzig wahre Art Rollenspiel zu betreiben ansehen, das ist doch dann wieder klassisch aufklärerisch/kantianisch – daher mein case für die Hybridität vorhin. Kant in seinen moralphilosophischen Ausführungen von wegen Ehe usw. ist doch zum Beispiel nur jemand, der durch seine sophistisch-universalistische Logik Leute ausgrenzt – Frauen, Onanisten, wer halt gemäß der damals herrschenden Normen sowieso nicht dazu passte. Genauso gibt doch Kiesow apodiktisch an, was scheinbar unweigerlich zu schlechtem Spiel führt und wie es richtig zu gehen hat. Das Bedürfnis, eine künstlerische oder, hier allgemeiner gefasst, kulturelle Form zu normieren, ihr Regeln aufzuerlegen – das ist auch typisch aufklärerisch. Stichwort Regelpoetik, Gottsched. Die Romantiker hatten wie oben geschrieben zwar auch dieses Sendungsbewußtsein, aber allgemein kann man denen wohl eine höhere Variantentoleranz zuschreiben, was Form & Inhalt angeht. Prosa, Lyrik, Drama, Musik, bildende Kunst; verklärende Historienstücke oder reine Fantasie, aber gerne auch einfach nur Lektüre alter Chroniken – fanden die alles ganz cool und wurde ja bekanntlich gern gemischt. Nicht umsonst wird die Epoche eben auch als wichtiger Meilenstein auf dem Weg hin zur Moderne betrachtet.

[Gerade auch nochmal auf Wikipedia nachgeschlagen, um grob zu sichern, dass ich keinen Unsinn schreibe: Da heißt es zum Beispiel über die englische Romantik:
"In contrast to Germany, Romanticism in English literature had little connection with nationalism, and the Romantics were often regarded with suspicion for the sympathy many felt for the ideals of the French Revolution, whose collapse and replacement with the dictatorship of Napoleon was, as elsewhere in Europe, a shock to the movement.]

Und gerade die Romantik als andererseits einen wichtigen Meilenstein in Sachen phantastischer Literatur heranzuziehen ist finde ich auch nicht abwegig. Aber  du hast recht, es wären auch andere Literaturepochen in Hinblick auf Rollenspiel interessant. Nur scheint DSA ja stark Bezug auf jene Sagen und Märchen zu nehmen, für die sich auch die deutsche Romantik stark gemacht hat (?) – korrigiert mich, wenn ich Unsinn erzähle, ich kenne DSA nur aus Internetdiskussionen. Aber sowas wie die phantastische Literatur, die den Appendix N geprägt hat, scheint ja in Deutschland quasi ganz zu fehlen. Oder gäbe es da irgendwelche Zwischenstufen nach deutscher Romantik und dann Karl May, die in DSA Kreisen sozusagen core Literatur wäre?

DSA bezieht sich nicht direkt auf deutsche Märchen. Es werden keine wiedererkennbaren Motive übernommen, wo man draufzeigen könnte und sagen: "Das ist aus Frau Holle!" DSA hat auch teils massiv unterschiedliche Abenteuer, teils ist da null märchen drin. Das, wo man am meisten von Märcheneinfluss ausgehen kann, ist vermutlich sowas wie Der Fluch des Flussvaters, wo ganz direkt Märchenatmosphäre entstehen soll. Die Motive sind aber, soweit ich das verstehe, eher osteuropäisch, deutsch und orientalisch bunt gemixt.

Ich weiss, das es in England einen massiven Schub in Richtung Fantasyliteratur gab, mit den ganzen Elfen und zwergen, dies als reaktion auf die industrialisierung und die miesen Lebensbedingungne in den Städten. Das war auf jeden fall Weltflucht.

In bezug auf die natinalen Tendenzen, ich denke weder Briten noch Franzosen brauchten da viel, die wussten beide, dass sie die besten sind, das musste nicht extra erwähnt werden. Bei der deutschen kleinsaaterei fragt man sich natürlich, ob Deutschland zu der zeit überhaupt schon in der Lage war, sowas wie Ausgrenzung zu betreiben, weil für Ausgrenzung braucht man ja erstmal eine Vorstellung davon, was deutsch ist, und ich denke die war zu der zeit noch nicht da, bzw. im Entstehen. ich glaube aber, die deutsche Romantik ist nicht ausgrenzend, weil sie sich nicht aufs Ausland bezieht, sondern auf die Deutschen. ich sehe da eher einen Inklusionsgedanken in dem Sinne, verschiedene deutschsprachige Ländern zusammenzuführen.

Interesaant wäre wenn jemand erkären würde, was diese Klassik ist, von der sich die Romantik bewusst abgrenzt. Dann könnte man vielleicht mehr sagen, ob DSA von dort bezüge hat.

DSA hat sich ja um irgendwann 1970/80 entwickelt, wenn ich richtig liege. Literaturhistorisch wäre das Postmoderne, oder? Und Postmoderne ist "Everything goes". insofern würde DSA als ein mischmasch aus allem möglichen passen.

 

 

 

 

Ich stimme dir da zu, dass der Nationalgedanke damals sicher erstmal keine vordergründige Motivation hatte, jetzt einfach Leute ausgrenzen zu wollen. Sicherlich spielten da auch pragmatische Gründe, mit den schon etablierten Nationalstaaten gleichziehen zu wollen etwa, eine signifikante Rolle.

Aber Hintergründig stellt sich dann ja doch sofort die Frage: Wer gehört jetzt wirklich zu diesem neu entstehenden (erstmal nur als Wunsch bestehendem) Nationalstaat. E.T.A. Hoffmann zum Beispiel setzte sich als Jurist für Friedrich Ludwig Jahn ('Turnvater Jahn') ein (er hatte also Sympathie für die Nationalbewegung); in seiner Geschichte 'Die Brautwahl' lässt er eine mit anti-semitischen Stereotypen charakterisierte Figur als Kontrahenten auftreten.

Der französische, englische und so ziemlich jeder sonstige Nationalismus, alle weisen natürlich ähnliche Effekte auf, nur haben gerade diese beiden anderen Genannten Wurzeln, die über die Romantik hinaus zurückgehen. Im Sinne eines Verstehens von Ausgrenzungsdynamiken (die kommen automatisch mit, sobald eine Gruppenidentität konstruiert wird) müsste man in deren Fällen halt andernorts ansetzen, um ihnen auf die Spur zu kommen. Aber im Sinne eines Verstehens solcher Dynamiken in der deutschen Rollenspielszene ist die Romantik bestimmt nicht der schlechteste ideengeschichtliche Ort, um seine Überlegungen anzufangen. Auch wenn Sagen und Märchen jetzt nicht direkt vorkommen und/oder mit Elementen aus anderen Kulturkreisen vermischt werden – was im Podcast so zum Beispiel zitiert wurde, diese Sache von der Sehnsucht danach, seinem König (oder Kaiser?) auch nur einmal ehrfurchtsvoll gegenüber stehen zu dürfen – das schreit für mich schon nach Romantik, Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter und so. Würde mich nicht wundern, wenn diese Epoche ein wichtiger Bezugspunkt für den Autoren dieser gerade paraphrasierten Passage gewesen wäre.

Zur Klassik noch: Istn altes Streitthema. Manche (gerade angloamerikanische Forscher) scheren gerne Klassik und Romantik über einen Kamm und sprechen von beidem einfach als 'Romanticism'. Diese penible Unterscheidung ist also selbst so etwas wie ein deutscher Sonderweg. Aus dem Stehgreif: Klassik -> Autonomie des Kunstwerks (keine Bezüge zu Politik oder so gewünscht); ästhetische Ausgewogenheit, keine Extreme; die 'ich als freies Individuum kann alles erreichen!'-Attitüde der Sturm und Drang Phase wird einem Bewusstsein für die Zwänge der gesellschaftlichen Realität untergeordnet und beide Pole, Individualismus und Konformität sollen in Einklang gebracht werden. Orientierung an der griechischen Antike die für ihre "edle Einfalt und stille Größe" bewundert wird. Am Ende des klassischen Bildungsromans findet der Held seinen Platz in der Welt und erkennt ihn an.
Romantik -> Orientierung wie schon gesagt an eher am 'eigenen' Mittelalter statt Antike, es darf auch weniger 'Ausgewogen' zugehen. Die Darstellung von Wahnsinn, Groteskem und Auschweifendem wurde ihr angekreidet. Transgression, wenn auch nur in der Imagination. Zunächst starke Ablehnung aller bürgerlichen Behäbigkeit, später dann aber auch eine stark konservative Stoßrichtung. Die Übergänge zum Biedermeier, die ja schon von Settembrini erwähnt wurden, sind zum Teil fließend.

Aber dann haben wir auch Leute wie Kleist, die Klassik und Romantik zugerechnet werden (Seine 'Penthesilea' passte trotz antikem Stoff durch für die damalige Zeit extreme Gewaltdarstellung nicht ins oben angerissene Antikenbild) und auch Goethe selbst wird gerne im Nachhinein, gerade im Faust II oder im Märchen, als Romantiker betrachtet. Ist die Unterscheidung überhaupt noch haltbar? Keine Ahnung, das wird bis heute noch heiß diskutiert, hab ich mir mal sagen lassen.

Ist Rollenspiel Postmodern dank der Entstehungszeit? Zunächst einmal muss etwas ja nicht der Epoche zugehören, die zur Entstehungszeit 'cutting edge' ist. Man spricht da auch von der 'Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen'. Die Epochen laufen in Wirklichkeit teils überlappend nebeneinander und nicht in strikt chronologischer Abfolge. Zur Frage der Postmodernität von Rollenspiel will ich erstmal nichts sagen, das ist mir zu kompliziert für die fortgeschrittene Uhrzeit und da würde ich mir erstmal Gedanken zu machen wollen. Ist aber jedenfalls eine interessante Frage, bin Gespannt was andere vielleicht dazu meinen.

Die Figur des südeuropäischen Aufklärers, der den deutschen Biedermeiern das Licht anknipst, ist ja bei Settembrini erkennbar von Anfang an Programm. Ich finde das ja durchaus charmant, weil natürlich so viel drin steckt, das Sinnbild selbst, aber in der Wahl einer Figur von Thomas Mann eben auch zugleich ein ästhetisch und moralisch über allen Zweifel erhabener Fluchtpunkt der deutschen Kultur, und eine gewisse elitäre Intellektualität, die im Kontrast zum sonstigen Auftreten steht. Diejenigen, die da immer aus dem "preußischen" und "sittlichen" Teil irgendwelche Nazi-Vergleiche abgeleitet haben, naja die wussten mit dem Nick offenbar nichts anzufangen. Ich hatte da allerdings immer auch eine gewisse Selbstironie reingelesen. Immer dann, wenn diese Selbstironie im - der Figur wie auch dem Mensch dahinter zu eigenen - Temperament unterzugehen droht, wird es mir persönlich unsympathisch. Denn wenn es so zu klingen beginnt, als wollte einer ernsthaft Abenteuerrollenspiel mit Aufklärung und humanistischen Werten, Stimmungsspiel mit Nationalismus und Ausgrenzung, von denen wir alle wissen, worin sie in Deutschland historisch gipfelten, gleichsetzen... das ist der Moment, wo ich früher durch die Decke gegangen bin, heute mich mit Grausen abwende und für einige Monate fern bleibe.

Kurze Ergänzungen:

Die Verbindung zwischen Spätromantik und deutschem Nationalismus ist keine neue oder exzentrische These. Franz Werfel bspw. hat das in den frühen 20ern formuliert, in seinem Roman Verdi, mit Bezug auf Richard Wagners Schaffen.

Ausgrenzung: Die Gebrüder Grimm waren extrem antisemitisch. Glumbosch hatte dazu was verlinkt.

* Orangener Gurt im PJJ * Grüner Gürtel im Drama-Fu (Drachen-Stil) * Brauner Gürtel im Pyro-Fu * Night's Master im Ghoulu Jitsu * Gelber Gürtel im Tanelorn *

Hier Franz Werfel:

Zitat von ghoul am 16. Februar 2020, 9:56 Uhr

@Set:

Der Geist der Romantik, Verbündeter aller heiligen Allianzen, Knecht jeder zweifelhaften Autorität, dieser Geist des Wahnsinns, sofern Wahnsinn die Flucht vor der Wirklichkeit bedeutet, dieser Dämon unaufgeräumter und deshalb schwulstiger Gemüter, dieser Narzissmus der Tiefe, dem der Abgrund ein lüsterner Kitzel ist, dieser Gott der Verwicklung und Widerklarheit, dieser Abgott erstorbener Sinnlichkeit, verbotener Reize, scheinheiliger Gebärden, krankhafter Vergewaltigungen, der böse Geist der Romantik, terroristisch von rechts und links, diese Pest Europas hat die lebenswilligste Jugend besiegt, um heute noch zu herrschen.

Frühe 1920er!

 

* Orangener Gurt im PJJ * Grüner Gürtel im Drama-Fu (Drachen-Stil) * Brauner Gürtel im Pyro-Fu * Night's Master im Ghoulu Jitsu * Gelber Gürtel im Tanelorn *

Der von Glumbosch verlinkte Artikel über die Grimms, sehr lesenswert zum Verständnis der deutschen Kulturgeschichte:

https://www.merkur-zeitschrift.de/2019/10/28/etwas-vorlaut-widriges-das-judenbild-der-brueder-grimm/

* Orangener Gurt im PJJ * Grüner Gürtel im Drama-Fu (Drachen-Stil) * Brauner Gürtel im Pyro-Fu * Night's Master im Ghoulu Jitsu * Gelber Gürtel im Tanelorn *
Zitat von ghoul am 25. November 2020, 8:06 Uhr

Kurze Ergänzungen:

Die Verbindung zwischen Spätromantik und deutschem Nationalismus ist keine neue oder exzentrische These. Franz Werfel bspw. hat das in den frühen 20ern formuliert, in seinem Roman Verdi, mit Bezug auf Richard Wagners Schaffen.

Ausgrenzung: Die Gebrüder Grimm waren extrem antisemitisch. Glumbosch hatte dazu was verlinkt.

Genau deshalb der Bezug zum Biedermeier, dem der Nationalismus eher fremd war. Heimat ja. Deutscher Nationalstaat = revolutionär = schlimm also nein.

Witzig, dass du das so sagst. Das Werfel-Zitat stammt ja aus einem Roman, der zur Zeit spielt, als Verdi und Wagner sich beide in Venedig aufhalten. Der Verweis auf die von den bösen Romantikern unterdrückte Jugend meint die 1848er-Bewegung, die Revolutionäre. In diesem Kontext sind also revolutionäre Nationalstaatsbestrebung und verklärte Nationalromantik gegeneinandergestellt.

Edit: Wagner ist natürlich gerade kein Biedermeier.

* Orangener Gurt im PJJ * Grüner Gürtel im Drama-Fu (Drachen-Stil) * Brauner Gürtel im Pyro-Fu * Night's Master im Ghoulu Jitsu * Gelber Gürtel im Tanelorn *
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